Rezension: Burgkinder von J. R. Bechtle

J. R. Bechtle, 1943 in Belgien geboren, im Rheinland aufgewachsen, ursprünglich promovierter Jurist, lebt als freier Schriftsteller im sonnigen Kalifornien, genauer in San Francisco. Sein neuester und dritter Roman ist eine Familiengeschichte. Erzählt wird von der Familie Fürst und den Wisemans in den USA. Zwei Familien, die unwissentlich miteinander verbunden sind.

Hermann Fürst war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein deutscher Bestseller-Autor, auflagenstärker als Thomas Mann, wie Fürsts älteste Tochter Pia immer gerne betont. Auch des Autors Großvater war Schriftsteller, nämlich Rudolf Herzog. Einige Fakten aus Herzogs Leben dienten dabei dem fiktiven Fürst als Vorlage. Beiden gemein ist auch der Wohnsitz, die Familien leben in einer Burg am Rhein, die mit Tantiemen erstanden wurde.

Beim Einstieg in die Geschichte schreiben wir April 1945. Der Krieg wird in Kürze zu Ende sein. Doch Hermann Fürst erlebt das nicht mehr. Mit der Idee zu einer neuen Geschichte, mit neuem Mut für das Kommende und in der Vorfreude auf eine Flasche guten Wein, stirbt er. Es wird keinen Nachkriegsroman von Fürst geben, die Familienmitglieder müssen sich ohne den Patriarchen in der neu anbrechenden Zeit orientieren. Wie und ob ihnen das gelingt, von den Umbrüchen erzählt der Text in drei Zeitetappen: 1945–1947, 1969–1971 und 1996–1999.

Was 1945 in Deutschland beginnt, zieht Kreise in die USA, die sich vor der Jahrtausendwende zurück nach Deutschland bewegen. Die Buddenbrooks gründen in der ersten Generation, bewahren in der zweiten und scheitern in der dritten. Die Fürsts, auch sie mit dysfunktionalen Tendenzen wie bei den Buddenbrooks, gründen und scheitern schon im Bewahren. Es braucht die Enkelgeneration und die Wisemans, um die Familie neu zu erfinden.

Bechtles Familienroman ist insgesamt eine unterhaltsame und teils spannende Lektüre. Er zeigt auf 384 Seiten, wie alles mit allem zusammenhängt und dass das geflügelte Wort, man treffe sich immer zweimal im Leben, nicht verkehrt ist.

J. R. Bechtle. Burgkinder. Frankfurter Verlagsanstalt, März 2018. ISBN 978-3-62700-2503, 384 Seiten, 24,00 EUR.

„Der Sklave und sein Händler“ von Wolfgang Sorge

Gelungener Genremix

Wolfgang Sorge hat Spaß an historischen Rätseln und Geheimnissen. Bei der Lektüre einer westfälischen Chronik stieß er auf das Gerücht, das lautete: der aus Afrika stammende Tischlergeselle Antonio Congo habe in der Mitte des 19. Jahrhunderts im westfälischen Dorf Ottenstein nach (s)einem Sklavenhändler gesucht. Da es auf dem Friedhof des Ortes tatsächlich eine Grabstelle für einen Antonio Congo gibt, war das Interesse des Autors geweckt. Er hatte das Thema für den Roman „Der Sklave und sein Händler“ gefunden.

Die Geschichte wird erzählt, wie sie sich zugetragen haben könnte. Sie beschränkt sich dabei weder auf eine Zeitebene noch auf ein Genre. Der vorgelegte historische Roman ist in Wahrheit Drama (19. Jahrhundert), Reisebericht (20. Jahrhundert) und Prosatext (2009). Diese Mixtur ist dem Autor gelungen.

Im Drama lernen wir Antonio Congo kennen, der sich 1843 mit seinem Freund Hermann auf die Walz begibt. Erklärtes Ziel ist der kleine Ort Ottenstein, wo er auf Anna-Sophie Schomburg trifft. Das Reisetagebuch entsteht 1926, sein Autor ist der New Yorker Arthur Schomburg. Er schildert darin seine Reise nach Europa, auch ihn verschlägt es für einige Tage nach Ottenstein. Der Prosatext ist schließlich, mit weiteren Schomburgs in den Hauptrollen, zeitgenössisch.

Wolfgang Sorge ist ein spannendes Buch geglückt. Eigentlich Hotelier von Beruf, gründete er seinen eigenen Verlag, in dem „Der Sklave und sein Händler“ als erster Titel erschien. Der Homepage des Wiederkehr-Verlags, aber auch dem Impressum des Buchs ist zu entnehmen, dass Sorge sich Text-Profis an die Seite holte. Er wollte damit seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden. In dieser Zusammenarbeit entstand aus einer guten Geschichte nicht nur ein guter Text, sondern auch ein Beispiel für gelungene Bücher im Selbstverlag. Bravo, Herr Sorge!

Bibliografische Angaben: Wolfgang Sorge. Der Sklave und sein Händler. Wiederkehr Verlag, Hannover 2017. ISBN : 978-3-947108-00-8; 312 Seiten, € 14,80.

13 Reasons Why oder: Tote Mädchen lügen nicht

Die oben genannte Netflix-Serie, die in Deutschland seit März zu sehen ist, wird unter Eltern, Pädagogen und Psychologen heiß diskutiert: Darf die Serie, die sich mit den Gründen und dem Suizid einer Jugendlichen beschäftigt, dies in der Art und Weise tun, wie sie es tut? Ich meine, ja.

Hannah Baker ist ein Opfer ihrer Highschool und der Art und Weise, wie die Gesellschaft, wie Menschen miteinander umgehen. Neu an der Schule, hat sie keine langjährigen Freunde. Bald ist sie einem Mobbing ausgesetzt, man verbreitet Unwahrheiten über sie, macht sie zur „Schlampe“. Diesen ersten Verletzungen steht Hannah recht hilflos gegenüber, es fehlen ihr echte Freunde. Manche enttäuschen sie, das Gefühl nicht dazuzugehören, verdichtet sich. Der Junge, mit dem sie viel gemeinsam hat, ist zu ängstlich seine Gefühle für sie zu zeigen. Es sind die kleinen und großen Verletzungen im Umgang miteinander – angefangen beim Rufmord bis hin zur Vergewaltigung – die Hannahs Lebensmut und ihre Seele zerstören und sie zu ihrem fatalen Entschluss bringen, sich selbst das Leben zu nehmen. Sie hinterlässt 13 Tonkassetten, in denen sie die Gründe aufzeigt, die sie dazu brachten. Hannah ist aber nicht nur Opfer, sie hat keine komplett fleckenlose Weste, hätte manchmal einfach anders reagieren sollen, als sie es tat.

Die Kritik an der Serie ist zum einen ihre wirklichkeitsgetreue Abbildung, Jugendliche würden damit nicht vom Selbstmord abgehalten, sondern im Gegenteil dazu gebracht. Diese Kritik ist nicht neu, schon GoethesWerther“ sah sich diesem Vorwurf ausgesetzt. Sowohl damals als auch heute ist dieser Vorwurf falsch bzw. Ansichtssache. Meines Erachtens stellt die Netflix-Serie keine Verherrlichung eines Selbstmordes dar.

Ja, die Kamera hält auf Hannahs Arme, als sie die Rasierklinge ansetzt und schneidet. Doch sehen wir auch, dass dieser Tod sehr, sehr schmerzhaft und keinesfalls leicht ist. Wäre der Suizid nur angedeutet, glaubten wir, dass ein Tod in der Badewanne im weichen warmen Wasser schmerzlos wäre. Doch wir müssen zuschauen, die Kamera hat kein Erbarmen mit uns.

Die Episoden sind bedrückend, das ist keine Frage. Doch sie sind durchaus auch lehrreich. Sie sind nicht eindimensional, sondern zeigen die komplexe Gefühlswelt von Jugendlichen, die nicht mit der von Erwachsenen gleichzusetzen ist, wie gedankenlos manch 16-, 17-Jähriger mit seinesgleichen umgeht, wie stromlinienförmig und oberflächlich Erziehung durch die Erwachsenen sein kann, weil zu wenig Spielraum für eine individuelle Entwicklung bleibt. Am Beispiel des Schulsports wird das deutlich: Die erfolgreichen Spieler fühlen sich als die Besten und werden darin noch von allen unterstützt. Es ist immens wichtig, „populär“ zu sein. Wir kennen dies auch aus anderen Büchern oder Filmen. Möglicherweise trifft dies insbesondere auf US-Schulen zu, in einer Gesellschaft, in der der Erfolg, insbesondere auch der sportliche, die Messlatte der Dinge ist, einen überdimensionierten Stellenwert hat. Allen anderen bleibt nur, den Erfolgreichen zuzujubeln.

13 Reasons Why beruht auf dem gleichnamigen Roman von Jay Asher, der 2007 in den USA erschien, in Deutschland zwei Jahre später. In beiden Ländern und anderen war schon der Roman sehr erfolgreich und wurde auch von den Kritikern gelobt. Die teils negative Kritik, die die Serie nun zehn Jahre später erfährt, lässt sich nicht nachvollziehen. Was vor zehn Jahren eine gute Resonanz hatte, ist nun schlecht? Letztendlich ist zu hoffen, dass beide Medien – Buch und Serie – für das Thema sensibilisieren und Jugendliche und Erwachsene darüber nachdenken. Ich jedenfalls werde mit meiner heute erwachsenen Tochter über die Serie sprechen und sie nach ihren Erfahrungen fragen, die sie als Teenager machte, als sie für einige Monate eine amerikanische Highschool besuchte.

Zum Buch auf Deutsch (Taschenbuch) oder im Original als e-Buch.

Nachtrag, 11.7.2017:
Gerade lief im Deutschlandfunk ein Interview mit Dr. med. Kahl, Bundespressesprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte e.V.. Demnach hätten die Ärzte am liebsten ein Verbot der Serie, die Selbstmord „romantisierend“ darstelle.

Man kann nur vermuten, dass die Kritiker die Serie nicht komplett gesehen haben, ansonsten hätte auch diesen Doktoren auffallen müssen, dass im Leben dieser Jugendlichen im geschilderten Zeitraum keinerlei Romantik stattfindet. Mobbing, Vergewaltigung, Wegsehen, Alkoholmissbrauch, Vernachlässigung durch Erzieher und Eltern sind nur einige Stichworte, die schwerlich als „romantisch“ bezeichnet werden können.

 

 

Im Theater: Brechts Dreigroschenoper

Gestern Abend war im Ludwigshafener Pfalzbau das Thalia-Theater aus Hamburg zu Gast mit seiner Werkschau der Dreigroschenoper von Bertold Brecht. Die Inszenierung stammte von Antu Romero Nunes, einem Absolventen der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin. Erinnert wurde der Zuschauer an Brechts Forderung, sich in erster Linie im Theater nicht zu unterhalten, sondern „abzuarbeiten“. Brecht war allgegenwärtig, da die Darsteller alle in Brecht-Montur auftraten, sich und ihre Arbeit kommentierten und kritisierten. Ein interessanter und oft witziger Ansatz (auch am Ende, als der reitende Bote auf einem wahrhaftigen Pferd auf die Bühne kam). Die einzelnen Bilder wurden von den Schauspielern beschrieben, das Publikum war aufgefordert, sich das selbst vorzustellen. Kurt Weills Musik und die Songs traten für meinen Geschmack dabei ein wenig zu sehr in den Hintergrund. Trotzdem aber ein gelungener Theaterabend, der anregte mal wieder selbst die Musik nachzuhören.